Im Fluss der Bewegung 

Madrina Maria Rößler



14.02.2013

von Madrina Maria Rößler 

Alles ist ständig in Fluß und ständig in Veränderung. Dieses daoistische Prinzip wird beim Taiji-Training umgesetzt. Jeder Teil des Körpers ist kontinuierlich in Bewegung und verändert sich ständig. Die äußeren Bewegungen sind fließend und koordiniert und gehen ohne Unterbrechung ineinander über. 

„When the „true body listening“ begins to take over, no longer are there just correct final or even half-way positions to pass through. Attention must shift to the process of changing continuously, so that each of the many thousands of small changes produces a new Mind-Energy-Body position, each equally as important as the final posture. Gradually true sensing produces whole-body-listening or global sensing.“ (Patrick Kelly: Infinite Dao, Seite 109). 

Es erfordert jedoch eine lange Übungspraxis, in der die kleinen Veränderungen der Muskeln trainiert werden, die Wellen von elastischer innerer Kraft hervorbringen, die sich spiralig durch den Körper bewegen und der äußeren Bewegung eine unwiderstehliche Kraft geben. 

Mit dem oberflächlichen Geist, der durch die 5 äußeren Sinne agiert, ist dies nicht zu bewerkstelligen. Und da es darum geht, das tiefere Selbst zu finden, besteht der erste Schritt darin den Geist nach innen zu wenden. Dies geschieht über die 5 inneren Sensoren: Sensoren befinden sich überall im Körper wie z.B. in den Gelenken und in den Muskeln. Mit ihrer Hilfe nehmen wir Schmerz, Druck und Temperatur wahr. Es ist ein universeller erster Schritt in Richtung des Wahren Selbst, das unabhängig von äußeren Methoden bzw. kulturellen Kontexten ist. Welche äußeren Bewegungen dabei gemacht werden, ist gleichgültig. Das ist übrigens der Grund, warum das Erlernen allzu vieler Bewegungschoreographien kontraproduktiv ist. Denn dann würden wir allzu lange den Geist auf das Erlernen von äußeren Bewegungsabfolgen fokussieren und an der Oberfläche festhalten. 
Aus dem Zustand dieser vertieften Körperwahrnehmung heraus (das Wahrnehmen von Kribbeln über die Schmerzsensoren, die Wahrnehmung der Stellung der Gelenke, die Wahrnehmung der Körpertemperatur, die Wahrnehmung von Druck im Körper, die Wahrnehmung der Veränderung des Zustandes der Muskulatur), bewegen wir unseren Geist, unsere Energie und unseren Körper. 

Mit Hilfe der Sensoren, die sich in den Gelenken und Muskeln befinden, und mit denen wir Kontraktion und Entspannung der Muskulatur wahrnehmen, trainieren wir drei Arten von Bewegungswellen. Transversale Wellen produzieren eine Auf- und Abwärtsbewegung von Teilchen. Longitudinal Wellen produzieren eine Bewegung vorwärts und rückwärts. Menschliche Körper stehen aufrecht, also ist es wichtig, sich diese Wellen und ihre Bewegungsrichtungen nicht liegend sondern stehend vorzustellen… Und drehende Wellen produzieren Verschraubungen. Unsere Bewegungen sind eine komplexe Mischung aller drei Arten von Wellen. 

Nur ein entspannter und frei beweglicher Körper ist fähig sich auf diese Weise zu bewegen. Jede Bewegung beginnt in den Füßen, unseren Wurzeln, und behält ununterbrochen die Verbindung zu diesen Wurzeln, während sich die Bewegung wellenförmig durch den ganzen Körper ausbreitet. Die kontinuierliche Bewegung des Zentrums (nach vor und zurück, im Heben und Senken und in der Rotation horizontal oder vertikal) spielt dabei die Hauptrolle. 

Eine Transversalwelle ist eine Welle, bei der eine Schwingung senkrecht zu ihrer Ausbreitungsrichtung erfolgt. Beim sogenannten Vertikalen Kreis bewegen wir das Zentrum, d.h. die Mitte unseres Körpers, also unser Becken vor und zurück und produzieren dabei eine Kraft, die sich nach oben bewegt, also vom Fuß in die Hände. Wir drücken uns vom vorderen Fuß mit einer Kontraktion nach hinten weg. Das Becken bewegt sich voraus und der Oberkörper folgt nach. Dann lassen wir leicht in den hinteren Fuß los, und sinken weiter ins Zentrum. Da setzt sich auch der Oberkörper auf das Becken. Eine Welle des Drucks entsteht. Druck beginnt zu entstehen, wir lassen jedoch weiter nach unten los, was eine aktive Dehnung bewirkt. Zuerst entsteht der Fußdruck, dann der Beckendruck, der Druck breitet sich aus bis zum Kopf und in alle Richtungen. Wobei wir da schon bei der nächsten Art der Welle wären… Ja, und um den Vertikalen Kreis jetzt mal ganz einfach beschrieben zu beenden: Der Weg nach vorne ist tatsächlich eine Wegstrecke nach vorne, wobei das Becken sich wieder voraus bewegt und der Oberkörper und die Hände nachfolgen. „Bamboo bending“ nennt Patrick Kelly das. Ganz leicht, wie ein Bambus eben. 

Eine Longitudinalwelle ist eine Welle, die in Ausbreitungsrichtung schwingt. Longitudinalwellen sind Druckwellen. Das heißt auf unser Taiji-Training übertragen: beim Steigen und Sinken und daher beim leichten Heben und Senken unseres Zentrums- unseres Beckens- entsteht Druck, der vom Fuß bis zum Kopf und bis in alle Richtungen steigt, während äußerlich der Körper sinkt. Diesen Druck nehmen wir mit den Drucksensoren und mit den Muskelsensoren wahr. Wobei Druck an den Außengrenzen des Körpers leichter spürbar ist, als im Inneren des Körpers… Mit den Muskelsensoren wird die aktive Dehnung spürbar, die entsteht, wenn wir alle Teile des Körpers nach und nach, eben longitudinal wellenförmig nach unten loslassen, der Druck, die Kräfte des Körpers dabei nach oben steigen. Das Entdehnen erfolgt auf dem Weg vom Zentrum nach vorne und dieses Entdehnen erstreckt sich bis in die Hände. 

Torsionswellen sind Wellen, wobei eine Verdrehung senkrecht zur Ausbreitungsrichtung erfolgt. Wir bezeichnen das beim Taiji-Training meistens als horizontale Welle. Manche sagen auch in Anlehnung an die blumige chinesische Sprache „den Seidenfaden ziehen“. Diese Welle entsteht durch die Drehung des Zentrums: die Hüfte dreht, und Oberkörper, Arme und Hände folgen der Drehung der Hüfte nach. 

Je nach der Ebene des Geistes und der Übungspraxis üben wir beim Taiji also Bewegungswellen und Druckwellen und auch Wellen des Geistes und der Energie. 

Die kontinuierlichen Bewegungen des Zentrums, die niemals stoppen, produzieren alle diese Wellen, die sich weich durch den Körper bewegen. Wellen von Kompression und Ausdehnung, Öffnen und Schließen, die kleine und größere Veränderungen in den Gelenken und Muskeln des ganzen Körpers bewirken. 

Wenn durch kontinuierliches Training ein Verständnis für den Unterschied zwischen äußeren und inneren Bewegungen entsteht, für die kleinen Muskelveränderungen, die die äußere Position des Körpers kaum verändern, hat ein Übender auf dem Weg zum „inneren Taiji“ den ersten Schritt getan. 

„When I was young, I traveled to the high mountains to visit many masters. … Each of them knew some simple movement that had a specific benefit. You have already learned so much more than any master, but you must practice it. 
Constancy and persistence are the keys to success.“    (Hua-Ching Ni, Mastering Chi, Seite 25).

Madrina Maria Rößler  Push Hands improve stability

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