Von der Biologie zum Taijiquan

Madrina Maria Rößler



14. 05. 2004

von Madrina Maria Rößler

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift WEGE im Jahr 2005 veröffentlicht. 

Über dem See weht der Wind und bewegt die Oberfläche des Wassers.
So zeigen sich sichtbare Wirkungen des Unsichtbaren.
Das Zeichen besteht oben und unten aus festen Strichen, während es in der Mitte frei ist. Das deutet auf die Freiheit des Herzens von Voreingenommenheit, so dass es fähig ist zur Aufnahme der Wahrheit. Die beiden Teilzeichen haben umgekehrt in der Mitte einen festen Strich. Das deutet auf die Kraft der inneren Wahrheit in ihren Wirkungen.
Nr. 61 des Yi Jing – „Die innere Wahrheit“

Dieser Artikel wurde von Madrina Maria Rößler 2004 veröffentlicht in:
"Shambhala – Am Puls des Taijiquan"
Herausgeber: Franz Redl und Chaitanya Franz Pölzl; 209 Seiten, zahlr. Fotos und Abb., geb., ISBN: 9783901618246, Bacopa Verlag, Euro 29,-, www.bacopa.at/page/md3000003_18244.html


1. Auf der Suche nach den Schildkröten und nach Taijiquan

Zu beiden Dingen, die mir in meinem Leben bisher so wichtig waren, dass ich ihnen mein ganzes Engagement widmete, fällt den meisten Menschen erst mal Langsamkeit ein. Ich habe sieben Jahre lang die Europäischen Sumpfschildkröten im Nationalpark Donau-Auen erforscht, und mich vor eineinhalb Jahren von dieser Arbeit verabschiedet um „ganz“ Taijiquan machen zu können.
Dabei sind weder diese Schildkröten langsame Tiere, – sie sind hervorragende und schnelle Schwimmer, noch fehlt es dem Taijiquan an Dynamik. Die Dynamik beim Taijiquan spielt sich hauptsächlich in inneren Prozessen ab, und neben den langsamen gibt es auch schnelle Taijiformen.
Aber diese Assoziation der Langsamkeit ist nicht die einzige Ähnlichkeit. Wenn mich jemand fragt, wie es ist, von der Biologie zum Taijiquan zu wechseln, sage ich manchmal, dass das ja gar nicht so sehr was anderes wäre. Und weil ich selber immer wieder darüber staune, und mir immer klarer wird, wie sehr sich die Ökologie (der Studienzweig der Biologie, den ich gewählt habe) und das Taijiquan ähneln, möchte ich meine persönlichen Erfahrungen im Taijiquan in Verbindung bringen mit den Erkenntnissen der Ökologie, bzw. anderer Naturwissenschaften. Natürlich gibt es auch viele Unterschiede, die ich allerdings nicht als Gegensätze sehe, sondern eher als Polaritäten, die sich ergänzen. Worum es mir immer ging, ist, dass ich etwas über das Leben wissen wollte. Die Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, und Taijiquan ist für mich ebenfalls das Wissen vom Leben im Tun und im Sein.
In meiner Kindheit saß ich oft am Waldrand auf einem Baum oder in einer Au am Rand eines Baches. Ich schaute und horchte und saß und war einfach nur da. Ich hatte keine Fragen und wollte keine Antworten wissen. Später in der Schule stellten mir die anderen die Fragen, und ich begriff, dass es darum ging, über irgendwas Bescheid zu wissen. Die Vögel zum Beispiel mussten bestimmte Namen haben, es reichte nicht mehr einfach aus, sie zu sehen und sich über sie und mit ihnen zu freuen. Wenn ich mit anderen Menschen beisammen war, so schien es, musste ich etwas über das wissen, was wir gerade sahen. Denn nur dann konnten wir auch darüber reden. Auf diese Weise erlebte ich einen großen Teil der Kommunikation zwischen Menschen. So erforderte es unter anderem auch die Sprache, dass ich von meinem ganzheitlichen Erleben meiner frühen Kindheit wegging.
Doch es zog sich wie ein roter Faden durch alle Aspekte und Stationen meines Lebens: entweder ich saß allein in der Stille und spürte mich und die Fülle des Seins, oder ich verlor mich in der Aktivität und im Zusammensein mit Anderen. Entweder ich wusste im tiefsten Inneren über das Leben Bescheid, oder ich versuchte dem Leben mit meinem Denken und meiner Sprache näher zu kommen, dann verlor ich die Sicherheit und das Gefühl des Eingebettet-Seins, fühlte mich zwar der Gesellschaft, in der ich lebe, verwandter, hatte aber dabei das Gefühl eines anderen großen Verlustes.
Manchmal allerdings brachte ich während meiner Arbeit als Schildkrötenforscherin beides zusammen. Dann, wenn ich genau wusste, wo und wann ich die Schildkröten finden würde, um sie zu beobachten und Daten zu sammeln. Daten, die dann andersherum belegen, warum und wann sich die Tiere wo aufhalten. Ich fand immer genau dann Neues und Spannendes über die Schildkröten heraus, wenn ich aufgegeben hatte, mit dem Kopf zu suchen, sondern mich einfach führen ließ und spontan Dinge machte, oder Plätze aufsuchte, ohne rationalen Grund.
Um wieder zu meiner Kindheit zurück zu kommen: Es waren nicht Vögel, die mich am meisten faszinierten, sondern Schildkröten. Es ist schwer zu beschreiben, was diese Faszination ausmacht. Im Grunde kann ich nur sagen, wie die Schildkröten auf mich wirken. Ich empfinde sie als sehr weise Tiere, die in sich ruhen und eine unglaubliche Stärke ausstrahlen, zumindest die Schildkröten, denen ich in der freien Natur begegnet bin, und das waren vor allem Meeresschildkröten und Europäische Sumpfschildkröten. Schildkröten sind tatsächlich eine sehr erfolgreiche Tiergruppe, die sich auf verändernde Umweltbedingungen seit 250 Millionen Jahren einstellen kann. Damit sind sie älter als die Dinosaurier und älter als die Menschen sowieso.
So studierte ich also Biologie, um etwas über die Natur und das Leben zu erfahren, und suchte mir die Europäischen Sumpfschildkröten in den österreichischen Donau-Auen aus, um ihnen nahe zu sein, sie kennen zu lernen und sie zu schützen. Sieben Jahre lang arbeitete ich im Nationalpark Donau-Auen als Schildkrötenforscherin und erarbeitete Schutzmaßnahmen für diese Tiere. Es war wunderschön, die Schildkröten bei der Eiablage, beim Sonnenbaden, und beim Schlüpfen beobachten zu können, und dazu beizutragen, dass diese vom Aussterben bedrohten Tiere weiter in unseren Donau-Auen leben können. Es war mir immer klar, welch großes Geschenk es war, das erleben zu dürfen, und half mit bei der Verwirklichung eines Schildkrötenzentrums, damit auch andere diese Möglichkeit haben.
Parallel zum Biologiestudium begann ich Taijiquan zu üben. Ich erlebte das gleiche Gefühl der Geborgenheit, Richtigkeit, Klarheit und Verbundenheit mit allem, was ist, wie ich es während meiner Kindheit in der Natur erlebt hatte. Zusätzlich entdeckte ich meine Liebe zum Mensch-Sein. Während für mich vor dem Beginn meiner Taijiquan-Praxis Menschen eher etwas waren, was die Natur störte (obwohl ich schon sehr froh war, während des Biologiestudiums so klar gezeigt zu bekommen, wie groß die Verwandtschaft zu allen Lebewesen ist; doch das war eher ein verstandesmäßiges Wissen), empfand ich ab dann die Menschen nicht mehr losgelöst von der Natur, sondern als ein wunderbarer Teil von ihr. Für mich wurde das Üben von Taijiquan das Erforschen dessen, was ich bin, was Mensch-Sein ist, was Leben ist, und wie ich mein Potential, das in mir steckt, entwickeln kann. Es ist so unglaublich spannend, und dabei so ganzheitlich, wie ich das Leben als kleines Kind empfunden hatte. Und ich kann in Kommunikation mit anderen Menschen sein, ohne von dieser Ganzheitlichkeit weggehen zu müssen. Jetzt fasziniert mich Taijiquan so sehr, dass ich die Sorge um das Wohlergehen der Schildkröten in den Donau-Auen einer anderen Frau übergeben habe. Ich behalte die Schildkröten in meinem Herzen und besuche sie auch ab und zu. Und sonst übe ich Taijiquan, und weil ich weiß, dass es ein großes Geschenk ist, so etwas wie Taijiquan kennenlernen und erleben zu dürfen, und ich auch anderen Menschen das ermöglichen möchte, unterrichte ich es. Und ich versuche jetzt immer mehr von der Taijiquan-Praxis in den Alltag zu integrieren, denn ich möchte ja nicht nur mit Menschen kommunizieren, die mit mir Tui Shou (Push Hands, die Partnerübungen des Taijiquan) üben, und ich möchte ja auch sonst das Leben so intensiv spüren, und mich weiterentwickeln. Und deshalb versuche ich jetzt immer mehr das in mein Leben zu integrieren, was sich mir beim Taijiquan eröffnet. Denn ich möchte das Wertvolle, das ich mir beim Taijiquan erarbeite, auch außerhalb der Übungszeit behalten. Und ich möchte nicht mehr „entweder oder“ sondern alles: nicht mehr entweder allein sein oder in Kontakt sein und mich verlieren, nicht mehr entweder die Fülle des Lebens während des Übens und Meditierens spüren oder aktiv im Leben und in dieser Welt sein und diese Fülle dabei wieder verlieren. Ich möchte das innere Wissen über das Leben mit dem äußeren Wissen über das Leben verbinden.
Und obwohl ich ja jetzt schon eine Weile unterwegs bin und schon manche Früchte sehen kann, hatte ich bei jedem Schritt auf meinem Weg das gleiche Gefühl wie jetzt: ich stehe erst am Anfang und ich bin total neugierig, was da noch auf mich wartet, entdeckt zu werden und gelebt zu werden. Ich empfinde eine große Freude und eine große Dankbarkeit allen gegenüber, die diesen Weg vor mir gegangen sind, und auch allen gegenüber, die jetzt mit mir diesen Weg gehen.
Taijiquan gehört nicht zu den neu kreierten New Age-Methoden, sondern entstammt einer alten Tradition, die lebendig ist und weiterwächst. Es ist etwas seit Jahrhunderten Gewachsenes mit einem Hintergrund von Jahrtausenden, und da fühle ich mich sicher, als wären es meine eigenen Wurzeln, und als könnte ich mit Hilfe dieser Wurzeln ruhig weiterwachsen. Ich fühle mich eingebettet in einen Schatz an Erfahrung und Wissen und einen Schatz an Menschen, und es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als an diesem Fluss teilzuhaben und etwas dazu beizutragen. Dieser Fluss erscheint mir so kostbar, und obwohl ich erst einen kleinen Teil davon entdeckt habe, spüre ich doch, dass er alles berührt, was Leben ausmacht. Und ich möchte soviel da- von erforschen und leben, wie es mir möglich ist.


2. Warum uns die alte Methode des Taijiquan zu neuen Lösungen verhelfen kann

Zu Beginn ein Wunsch:
Es ist offensichtlich, dass allein mit dem rationalen Denken viele Probleme in unserem Alltag, unserer Gesellschaft und auf unserer Erde schwer zu lösen sind. Die Menschheit ist mit schweren politischen Krisen, mit gesellschaftlichen Umbrüchen, Bevölkerungswachstum und der Zerstörung von Umwelt und natürlichen Ressourcen konfrontiert. Das Wissen für Lösungen ist oft vorhanden, und trotzdem scheint es, dass deren Umsetzung uns Probleme macht, bzw. die Art des Wissens selbst zu Problemen führt. Viele Techniken stellen uns vor neue Herausforderungen, wie mit ihnen umzugehen ist. Und allzu oft stehen wir ohnmächtig und hilflos vor Situationen, die uns bedrohlich erscheinen, und wir wissen nicht, wie wir darauf reagieren und mit ihnen fertig werden sollen.
Ich möchte mit diesem Artikel dazu beitragen, dass neben dem rationalen und analytischen Denken auch eine andere Art des Wissens zu Rate gezogen wird, wenn es darum geht, mit uns und unserer Umwelt harmonisch und liebevoll umzugehen. Ich glaube, dass eine Methode wie Taijiquan dazu beitragen kann, zu neuen Lösungen zu kommen, die wir auf unserer Erde brauchen, um weiterhin darauf zu leben und uns weiterzuentwickeln. Alles, was wir nach außen bringen, beginnt in uns. Und so wird der erste und wichtigste Schritt der sein, erst mal zu uns selber zu finden, und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was wir im In- nersten sind. Und dann wünsche ich mir und uns allen, dass wir unsere innere Wahrheit leben können. Zum Wohle aller. Oder anders formuliert: „Don’t dream it, be it!“ („Träum es nicht, sei es, leb es!“) (Zitat aus der Rocky Horror Picture Show).
Gedanken – Nicht-Denken – neue Gedanken aus dem Innersten
Die Gehirnforschung hat gezeigt, dass die linke Hälfte der Hirnrinde der Hauptsitz des logischen, analysierenden, und linearen Denkens ist. Hier sitzen unsere Konzepte, unsere Glaubenssätze und unsere Muster, die sich aufgrund früherer Erfahrungen ge- bildet haben. Hier ist unser Ego beheimatet, das beurteilt, analysiert und kontrolliert. Die rechte Gehirnhälfte hat die Fähigkeit das Ganze auf einmal zu erfassen, anstatt sich auf Details zu fixieren. Sie vermittelt uns Erfahrungen, wenn der denkende Geist ruhig wird und andere Bewusstseinsbereiche aktiv werden. Hier sitzen nicht-lineare intuitive Bewusstseinsebenen, die für unsere spontane Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment sorgen. Da die rechte Gehirnhälfte eher das Erleben als das Denken ermöglicht, entstehen hier auch Gefühle wie Freude, Mitgefühl, Spaß, Wohlbefinden und Glück.
Gehirnscans von Meditierenden dokumentieren, dass eine Verlagerung der Aktivität von der linken Gehirnhälfte auf die rechte Gehirnhälfte in einem direkten Zusam- menhang mit dem Umschalten vom normalen Denken zu einer spirituell-meditativen Erfahrung steht (John Selby, 2003).
Neben der linken und rechten Seite der Hirnrinde gibt es weitere Hauptbereiche des Gehirns, die wesentlich für unser Denken, Fühlen und Handeln sind. Eines davon ist das Limbische System. Die Aufgabe des Limbischen Systems ist die Selbsterhaltung (Ernährung, Verteidigung, Angriff) und die Arterhaltung (Sexualität). Vom Limbischen System gehen Gemütsbetonung und gemütsbedingte Antriebe aus. Hier sind also die erinnerten Gefühle gespeichert, und aufgrund unserer konditionierten Gedanken (Erinnerungen aus der Vergangenheit, Bewertungen der Gegenwart, Vorstellungen von der Zukunft) entstehen unsere Handlungen.
Häufig reagieren wir also ohne realen Anlass im gegenwärtigen Moment mit be- stimmten Emotionen und Handlungen. Unsere Gedanken, die vor allem auf alten Erfahrungen basieren, und die wir in die Zukunft projizieren, sind unsere wichtigsten Impulsgeber für unser Verhalten. Und weil wir auf Altes reagieren, ist es oft eine Schutzreaktion, eine „Angstreaktion“, die mit einer Verkrampfung unseres Bewusstseins einhergeht und als Folge davon mit einer körperlichen Verspannung. Da aber das Alte schon längst vergangen ist und sich verändert hat, ist es nicht immer sinnvoll, mit gleichen Mustern zu reagieren. Und genau hier setzt das Taijiquan an. Wie jede Meditationstechnik durchbricht es den Gedankenkreis und verlagert den Geist auf die Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments. Beim Taijiquan ziehen wir die Aufmerksamkeit von den äußeren Sinnen ab und richten sie auf den körperlich-sensorischen Bereich unmittelbarer Wahrnehmung: Wir erleben, wie wir im Raum stehen (die Stellung der Gelenke), spüren unsere Füße, den Kontakt zum Boden (den Druck des Körpergewichts in den Füssen), wir spüren die Wärme unseres Körpers, spüren unseren Herzschlag, spüren so klar wie möglich die Bewegung des ganzen Körpers, die verschiedenen Muskelzustände, den Druck zum Beispiel des Oberkörpers auf das Becken, und spüren Schmerz, wenn der Körper zu sehr aus der Struktur fällt.
Und damit, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf unser sensorisches Bewusstsein lenken, lösen wir die Dominanz des logischen, denkenden Geist wirksam und mühe- los auf und öffnen uns dem, was im Moment da ist. John Selby arbeitete gemeinsam mit Neurologen und Psychiatern an einer Untersuchung, die bestätigt, dass der Ge- dankenfluss dann zum Stillstand kommt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf mehr als eine körperliche Empfindung richten. Und gleichzeitig öffnen wir unser Herz und empfinden Schönheit, Liebe und Freude. Es ist wirklich spannend, dass wir, um höhere integrierte Bewusstseinszustände zu erreichen, unsere Aufmerksamkeit zunächst auf den ältesten Teil unseres Gehirns richten müssen.
Was ich damit sagen will, ist, dass wir dadurch, dass wir unsere Gedanken leiser werden lassen, bzw. nicht mehr so ernst nehmen, mehr zu dem kommen, was im Moment da ist. Natürlich ist es grundsätzlich auch sinnvoll, auf alte Erfahrungen aufzubauen. Es wäre ganz schön aufwendig, jedesmal einen Apfel aufs Genaueste untersuchen zu müssen, um zu wissen, dass wir ihn gefahrlos essen können, und dass er uns gut tut. Und natürlich ist es auch wichtig, auf Angst reagieren zu können, wenn wir uns in einer unmittelbaren Gefahrensituation befinden. Doch genauso wichtig ist es, alte Erfahrungen verlassen zu können, alte Muster auflösen zu können, und das zu erfahren, was jetzt ist, und auch genau darauf zu reagieren, und nicht auf etwas, das schon längst vorbei ist. Taijiquan verhilft uns genau dazu. Und mit diesem Freiwerden von den Gedanken schafft man auch neuen Raum, in dem sich das entfalten kann, was in unserem Innersten als Wahrheit lebt. Neben dem Gefühl der Weite erlebe ich auch eine Stille, die durch das Verstummen der Gedanken entsteht. In der Stille, nehme ich die Welt wahr, wie sie ist, jenseits aller Worte. Ich entwickle die Fähigkeit spontan und unmittelbar auf eine Herausforderung und die Umgebung zu reagieren, und kann damit meist angemessener, „richtiger“ reagieren.
Beim Taijiquan erlernen wir völlig neue Bewegungsmuster. Auch das hilft uns bei der Auflösung alter Muster des Bewusstseins, und das wiederum fördert eben Entwicklung, bringt uns bewusstseinsmäßig weiter, und gibt uns die Möglichkeit, uns anders zu verhalten. Und vielleicht entstehen damit neue Wege für die Lösung von Problemen, die wir vorher nicht sehen konnten.
Beim Taijiquan geht es nicht rein um Entspannung und um das Auflösen des Gedankenstroms. Wir setzen uns nicht nur hin und entspannen Körper und Geist, sondern wir verwenden unsere Intention (darüber schreibe ich Genaueres weiter hinten, und es ist auch im Artikel „Stell die Sonne ins Herz“ mehr darüber zu lesen). Wir schalten also nicht nur von der linken zur rechten Gehirnhälfte, sondern gehen einen Schritt weiter. Wenn der oberflächliche Geist ruhig wird, erwachen tiefere Schichten des Geistes. Und damit können auch neue Gedanken entstehen, die allerdings einen anderen Ursprung als den rationalen Verstand haben. Lösungen für Probleme unseres Alltags, unserer Gesellschaft unserer Erde können dann ganzheitlicher aussehen, mit einer Weisheit und einem Wissen, das aus unserem tiefsten Inneren kommt.


3. Das Wissen vom Leben: Biologie und westliche Naturwissenschaften und östliche Philosphie und das Taijiquan

Beide, die Biologie und das Taijiquan versuchen, etwas über die Welt, in der wir leben in Erfahrung zu bringen, um uns in ihr zurecht zu finden und uns in ihr weiterzuentwickeln. Beide wollen helfen, die Wirklichkeit des Lebens zu sehen. Wie sie sich der Wirklichkeit des Lebens anzunähern versuchen, hat meiner Meinung nach einen Einfluss auf unser Denken und auf unser Handeln. Und deshalb möchte ich in diesem Kapitel den Unterschieden und den Ähnlichkeiten der beiden Methoden ein wenig auf die Spur kommen.
Die Biologie ist die Naturwissenschaft vom Leben. Was ist nun Leben für die Natur- wissenschaft? Für sie verkörpern die Lebewesen – Pflanzen, Tiere, Menschen – etwas „Neues“, das nur bei einer ganz bestimmten Ordnung der gleichen Moleküle auftritt, die isoliert oder in einfacheren chemischen Verbindungen für alle Zeiten als tote Substanz vorliegen würden (Strasburger, siehe Literaturliste). „Ein lebendes System ist daher mehr als die Summe seiner Teile: selbst wenn alle Eigenschaften der Teile sowie die Gesetzmäßigkeiten ihrer Wechselwirkungen bekannt sind, lassen sich die Eigenschaften des integrierten Ganzen nicht vorhersagen. Die spezifische Ordnung der belebten Materie, die das grundlegende materielle Merkmal des Lebens ausmacht, hat morphologische und dynamische Folgen: Morphologisch kommt sie in der Ausbildung deutlich gegenüber ihrer Umwelt abgesetzter Individuen zum Ausdruck, die in der Regel durch eine wohldefinierte Gestalt ausgezeichnet sind. Als dynamisches Ergebnis beobachten wir gleich drei neue Eigenschaften, die der unbelebten Materie im allgemeinen fremd sind: Stoffwechsel und Energiewechsel, Produktivität und Reiz- barkeit.“… „Zu diesen vier Grundeigenschaften der Lebewesen Gestalt, Stoffwechsel, Produktivität und Reizbarkeit kommt aber noch eine weitere wichtige Eigenschaft der Organismen hinzu, die erst die erstaunliche Mannigfaltigkeit der heutigen Lebewelt ermöglicht hat: die Fähigkeit zur neuen Kombination und sprunghaften Abänderung bestimmter morphologischer und physiologischer Eigenschaften in der Generationen- folge. Diese Befähigung zur Rekombination und Mutabilität liefert das immer neue Angebot für die Bildung neuer Arten und für die Höherentwicklung oder Evolution der Lebewesen. Seit Charles Darwin wissen wir, dass durch Abwandlung (Mutation), Wettbewerb (Konkurrenz) und Auslese (Selektion) in mehr als 3 Milliarden Jahren die ganze bunte Formenmannigfaltigkeit der ca. 500 000 heute lebenden Pflanzenarten und über 2 000 000 Tierarten entstanden ist“.
Das ist die „kurze“ Zusammenfassung, wie Biologen im Jahr 1983 beschreiben, was Leben ist. Mittlerweile ist auch hier einiges im Umbruch. Nicht mehr die Konkurrenz wird von vielen Biologen als wichtige Triebfeder für die Evolution angesehen sondern die Kooperation. Was dieser Wandel des Weltbildes in unserer Gesellschaft an Veränderung bringen könnte, ist offensichtlich. So wie wir die Welt sehen, so verhalten wir uns auch. Die Welt ist das, was wir aus ihr machen…
Die Wissenschaft basiert auf der Analyse, also auf einem Bewusstsein, das auf die voneinander getrennten Aspekte der Realität fokussiert ist. Vielleicht kann eine Wandlung hin zu einem Bewusstsein, das auf die verbindenden Aspekte anspricht, dazu beitragen, mit der Welt, in der wir leben und ihren Wesen besser umzugehen.
Die Wurzeln aller westlichen Wissenschaften reichen bis in die erste Period der griechischen Philosophie im 6. Jahrhundert v. Chr. zurück, in eine Kultur, in der Na- turwissenschaften, Philosophie und Religion noch nicht getrennt waren. Die Weisen der Milesischen Schule in Ionien kannten diese Unterschiede nicht. Ihr Ziel war die Entdeckung des Urgrunds oder der Urbeschaffenheit der Dinge (Fritjof Capra). Die Sicht der Mileter erinnert stark an die östliche Philosophie. Auch sie machten keinen Unterschied zwischen belebt und unbelebt, zwischen Geist und Materie. Zum Beispiel glaubte Heraklit von Ephesus an eine Welt ständigen Wandels. Für ihn war alles statische Sein eine Täuschung. Er lehrte, dass aller Wandel in der Welt vom dynamischen und zyklischen Zusammenspiel von Gegensätzen herrührt, und er sah jedes Paar von Gegensätzen als Einheit. Diese Einheit, die alle entgegengesetzten Kräfte durchdringt, nannte er „Logos“.
Die Spaltung dieser Einheit begann mit der Annahme eines göttlichen Prinzips jenseits von Göttern und Menschen, das dann immer mehr zu einem persönlichen und vernunftbegabten Gott wurde, der über der Welt steht und sie lenkt. So begann eine Tendenz, die schließlich zur Trennung von Geist und Materie und damit zu dem für die westliche Philosophie charakteristischen Dualismus führte. Rene Descartes gründete im 17. Jahrhundert seine Ansicht von der Natur auf der grundsätzlichen Teilung in zwei getrennte und unabhängige Bereiche: dem des Geistes und dem der Materie. Die Cartesianische Teilung erlaubte den Wissenschaftlern, die Materie als tot und völlig von ihnen selbst getrennt zu behandeln, und die stoffliche Welt als eine Ansammlung verschiedener, in einer gewaltigen Maschine zusammengesetzter Objekte zu sehen. Das mechanistische Weltbild von Isaac Newton beherrschte ab dann alles wissenschaftliche Denken.
Die Philosophie Descartes’ hat bis heute einen gewaltigen Einfluss auf die westliche Denkweise. Der berühmte Satz von Descartes „Ich denke, also bin ich“ brachte den westlichen Menschen dazu, seine Identität mit seinem Denken gleichzusetzen anstatt mit seinem gesamten Organismus. Deshalb empfinden sich die meisten Menschen als isolierte, „in“ ihrem Körper lebende Egos. Auch die Überbewertung der Gedanken hat hier ihren Ursprung. Der Geist wurde vom Körper getrennt. Diese innere Zersplitterung des Menschen spiegelt seine Ansicht von der Welt „draußen“ wider. Die Welt wird behandelt, als ob sie aus verschiedenen Teilen bestünde.
Viele moderne Wissenschaftler, Physiker, Ökologen, Philosophen, etc. sehen im Glauben, dass die Teile der Welt – in uns selbst, in unserer Umgebung und unserer Gesellschaft – wirklich getrennt sind, als Hauptgrund für die gegenwärtige Folge von sozialen, ökologischen und kulturellen Krisen an.
Im Gegensatz zur westlichen, mechanistischen Ansicht ist die östliche Ansicht von der Welt „organisch“. Alle von unseren Sinnen wahrgenommenen Dinge und Vorgänge gehören zusammen und sind nur verschiedene Aspekte oder Manifestationen derselben „letzten Realität“. Es wird als eine Illusion betrachtet, wenn wir die Welt in einzelne verschiedene Dinge unterteilen und uns selbst als isolierte Egos sehen. Das gilt als Zustand eines gestörten Geistes, der überwunden werden muss:
„Wenn der Geist gestört ist, wird die Vielfalt der Dinge produziert, aber wenn der Geist beruhigt wird, verschwindet die Vielfalt der Dinge.“ (Ashvaghaska, The Awakening of Faith. Übersetzung von D.T. Suzuki.)
Das höchste Ziel aller östlichen Traditionen ist, der Einheit und gegenseitigen Beziehung aller Dinge gewahr zu werden, den Begriff des isolierten individuellen Ichs zu überwinden und sich mit der „letzten Realität“ zu identifizieren. Das „Erleuchtung“ genannte Gewahrwerden ist kein intellektueller Vorgang, sondern eine Erfahrung, die den ganzen Menschen erfasst. Da Bewegung und Wandel wesentliche Eigenschaften der Dinge sind, liegen die Bewegung verursachenden Kräfte nicht außerhalb der Dinge, sondern sind eine innere Eigenschaft der Materie. Entsprechend ist das östliche Bild vom Göttlichen nicht das eines Herrschers, der die Welt von oben lenkt, sondern eines Prinzips, welches alles von innen steuert.
Fitjof Capra, der übrigens selbst Taijiquan übte, zeigt in seinem „Tao der Physik“, dass die Grundelemente der östlichen Weltsicht die gleichen sind, die auch die moderne Physik hervorbringt. Der moderne Physiker sieht die Welt als ein System untrennbarer, einander beeinflussender und in ständiger Bewegung befindlicher Kom- ponenten an, wobei der Beobachter ein integraler Bestandteil diese Systems ist.
Werner Heissenberg, der mit der Quantenmechanik die Physik revolutionierte, sagte: „Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt nicht einfach die Natur; sie ist ein Teil des Zusammenspiels zwischen der Natur und uns selbst… Was wir beobachten, ist nicht die Natur selbst, sondern die Natur, wie sie sich unserer Fragestellung darbietet.“ In der modernen Physik wurden Versuche gemacht, die klar zeigen, dass die Ergebnisse vom Beobachter und der Fragestellung abhängen. Die Phänomene, die beobachtet und beschrieben werden, sind also nicht getrennt vom Beobachter. Wir können uns als Menschen nicht vom Geschehen herausnehmen. Wir sind damit verbunden mit allem.
Auch in der Ökologie geht es um das Erforschen von Verbindungen. Sie ist das wissenschaftliche Studium der Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt. Sie befasst sich mit einzelnen Organismen, der Population und der Lebensgemeinschaft, und eben der Umwelt. Die Umwelt besteht aus allen Faktoren und Phänomenen außerhalb des Organismus, die ihn beeinflussen; egal ob es sich um physikalische oder chemische Faktoren oder um andere Organismen handelt. Die Ökologie ist die älteste Wissenschaft. Früher war es wichtig zu wissen, wo man essbare Pflanzen und Tiere finden konnte; heute müssen wir verstehen, wie wir auf der Erde leben können, ohne unseren Lebensraum zu zerstören und damit uns selbst.
Die Verbundenheit mit allem ist auch bei der Taijiquan-Praxis spür- und erlebbar. Es ist eine Erfahrung, die rational nur schwer erklärt werden kann. Manche Gehirnphysiologen versuchen es, mit einer veränderten Aktivität in unterschiedlichen Gehirnarealen zu erklären. Für Rupert Sheldrake sind es die Morphogenetischen Felder, durch die wir mit allen Wesen verbunden sind, und mit deren Hilfe wir Informationen austauschen. Ich würde das als inneres Wissen (das vielleicht unabhängig von Gehirn- und Nervenstrukturen existiert) bezeichnen, das von vielen Menschen, die Meditation und andere innere Methoden praktizieren und alten Weisen beschrieben wird. Diese Erfahrung der Verbundenheit mit allem hilft uns, uns als individuelle Wesen wahrzunehmen und als Wesen, die eingebettet in ein größeres Ganzes sind.
Wir haben also zwei Arten die Welt zu sehen: die rationale, in der wir zum Wissen durch Daten, Gleichungen und Theorien kommen, und die intuitive, in der wir zum Wissen durch Nichtdenken kommen, durch die unmittelbare Erfahrung. Und es scheint so, dass letztendlich beide Arten zum gleichen Ergebnis kommen. Und so unterschiedlich die Wege auch sind, die zum Wissen über die Welt kommen: beide sind nicht leicht zu gehen. Ein Wissenschafter und ein Taijiquan-Übender, wenn sie die letzte, die höchste Wirklichkeit erkennen wollen, beide haben einen weiten Weg zu gehen. Und die Sprache von beiden wird erst dann verstanden werden können, wenn man einen Teil des Wegs hinter sich gebracht hat.
Wichtig erscheint mir, dass wir nicht eine Art des Wissens abwerten, sondern das Rationale und das Intuitive als sich gegenseitig ergänzende Polaritäten sehen, eben wie Yin und Yang. Und dass wir wählen können, welche Art des Denkens für den Moment gefordert ist. Und dass uns bewusst ist, dass das Bild, das wir uns von der Welt machen, unser Leben und unser Handeln beeinflusst. Jedes Bild ist ein Konzept, es ist nicht die Wirklichkeit selber. Mit Methoden wie dem Taijiquan wird es möglich, die Wirklichkeit unmittelbar zu erfahren, und nicht ein Bild von ihr. Wir können sehen, wer wir wirklich sind.
Im Praktizieren von Taijiquan erlebe ich mich ganzheitlich, erlebe, dass ich nicht nur aus Gedanken bestehe, sondern erfahre das, was hinter den Gedanken ist. Und es wird möglich, beide Gehirnhälften zusammenzubringen, also Inneres (gesamtheitliches Denken) und Äußeres Wissen (analytisches Denken) zu verbinden, sie als zwei Seiten einer Wirklichkeit zu sehen. Yin und Yang…. Taijiquan ist eine Methode, die die Philosophie des Daoismus in die Praxis umsetzt. Und wenn wir das umsetzen wollen, was der Name Taiji bedeutet, nämlich das Höchste-Letzte, den Ursprung aller Dinge, das aus dem sich alles andere entwickelt, dann kommen wir dahin, was das Dao De Jing sagt: „Das Dao, das ausgedrückt werden kann, ist nicht das ewige Dao.“ Absolutes Wissen und Weisheit ist also nicht in Worte zu fassen. Lao Zi geht sogar noch weiter: „Am besten ist es, nicht zu wissen, das man weiß.“ Und während in der westlichen Welt die Idee vom Ansammeln von Wissen vorherrscht, als etwas, das immer mehr wächst, ist der östliche Ansatz genau entgegengesetzt: „Wer dem Lernen nachgeht, wird jeden Tag wachsen; Wer dem Dao nachgeht, wird jeden Tag schwinden.“ Hier haben wir also wieder die beiden gegensätzlichen und sich ergänzenden Sichtweisen. Lao Zi bezieht sich mit dem zitierten Satz auf den Bewusstseinszustand, in dem das Gehirn von allen Gedanken und Begriffen entleert ist, in dem jede Form von Zersplitterung aufgehört hat, und wir und alles um uns herum zu Einem geworden sind. Dann gibt es nicht mehr mich und die anderen, nicht mehr innen und außen, die Natur und den Menschen, Materie und Geist, sondern es ist alles eins, es sind nur unterschiedliche Manifestationen des Einen, des göttlichen Prinzips, das in allem steckt, der Buddha- Natur, des Daos, des Universums, ganz egal, welche Namen wir dafür verwenden.


4. Kooperation statt Konkurrenz

Beim Taijiquan erarbeiten wir uns beim Üben der Form die Prinzipien des Taijiquan und beim Tui Shou (Pushing Hands, die Partnerübungen des Taijiquans) versuchen wir diese anzuwenden, bzw. wollen im Üben mit einem Partner/einer Partnerin diese Prinzipien auch im Kontakt erleben und uns weiter in sie vertiefen. Das heißt, das, was wir allein entwickelt haben, entwickeln wir im Kontakt mit anderen Menschen, letztlich im Kontakt mit der Umwelt weiter. Beim Tui Shou sind wir also keine Gegner, sondern Partner, die den gleichen Weg gehen, das gleiche wollen und uns dabei gegenseitig helfen. Genau deshalb üben Praktizierende des Taijiquan Pushing Hands. Nicht, um zu kämpfen und heraus zu finden, wer denn nun der oder die Stärkere oder Bessere ist, sondern um die Prinzipien des Taijiquan miteinander zu erforschen.
Wir konkurrieren also nicht, sondern wir kooperieren. Hans-Peter Dürr, Quantenphysiker und Träger des Alternativen Nobelpreis, bringt die beiden Begriffe sogar zusammen, indem er darauf hinweist, dass das englische Wort für Konkurrenz, „competition“, ursprünglich „zusammen nach Lösungen suchen“ heißt. Und auch in der Biologie wird immer klarer, dass Darwins „Survival of the fittest“, „Das Überleben des Stärkeren“ nicht die Grundlage der Weiterentwicklung ist, sondern dass für das Überleben die Kooperation ausschlaggebend ist. „Fit“ könnte man ja auch mit „passend, angepasst, stimmig, geeignet“ übersetzen, anstatt mit „stark“. Darwin selber erläutert im 3. Kapitel der „Entstehung der Arten“ wie er den Ausdruck „struggle for life“ meint, nämlich als „die Abhängigkeit der Wesen voneinander“ (Ernst Peter Fischer).
Dürr, als Physiker, sieht in der Kooperation auch die Stabilität durch die Bewegung, durch die Dynamik aus Kräften und Gegenkräften. Das erinnert an den Wechsel von Voll und Leer im Taijiquan, an das Miteinander von Yin und Yang. Das gilt in der Physik so wie beim Menschen und in der ganzen Natur. Wenn wir nur einseitige Kräfte wirken lassen, dann wirken die so, dass das System abstürzt. Wenn wir nicht koope- rieren, meint er, stürzen wir 100%ig ab. Es hilft uns also nicht weiter, den anderen zu eliminieren, sondern wir müssen mit ihm zusammen arbeiten. Es geht also nicht um die Teile, sondern um das Zusammenarbeiten aller Teile, um Beziehung. Wenn man Materie zerlegt, dann haben die kleinsten Teilchen überhaupt nicht mehr die Ei- genschaft von Materie, sondern die Materie verschwindet. Übrig bleiben Beziehungs- strukturen, Form und Gestalt. Es ist für uns kaum vorstellbar, dass es eine Form ohne Materie gibt. Es gibt also eine Form des Nichts. Hier ist natürlich die andere Seite der gleichen Münze, also die relative Realität auch zu sehen, dass wir nämlich durchaus blaue Flecken bekommen, wenn wir gegen eine Glastür rennen… Beides, Materie, die ich angreifen kann, und Materie, die beim Zerlegen keine Materie mehr ist, beides gehört zusammen, sind Aspekte einer Wirklichkeit.
Wenn ich beim Tui Shou gemeinsam mit meinem Partner/ meiner Partnerin etwas über die Prinzipien des Taijiquan, über die Kräfte, die Energien, das Bewusstsein erfahre, erfahren wir etwas über die Prinzipien, die Kräfte, die Energien des Lebens. Wir erfahren etwas über uns selber, können uns selber sehen, und wir sehen und erfahren etwas über den anderen. Und wir erfahren etwas über unsere Beziehung. Und so erfahren wir etwas über uns, indem wir in Beziehung miteinander sind. Und das ist mehr als nur ein gegenseitiges Spiegeln. Miteinander in Beziehung-Sein schafft ein Drittes. Es ist mehr als ein Ich und ein Du. Wenn wir miteinander kommunizieren, wie wir das durch den Kontakt beim Tui Shou tun, dann geht durch uns ein Fluss von Information, ein Fluss von Bewegung und Energien. In diesem Fluss ist alles von uns miteinander in Kontakt, in Wechselwirkung. Und wenn wir diesen Fluss der Kommunikation an- sehen, dann sehen wir nur mehr die Wechselwirkung, die Beziehungsstrukturen an sich, und die Trennung zwischen mir und dem anderen zerfällt, ja es gibt dann nicht mehr nur mich und den anderen, sondern wir werden zu etwas Gemeinsamen. Und das entspricht im Wesentlichen auch den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft – der Quantenphysik, der Kosmologie, den ökologischen Wissenschaften, der Komplexitäts- und Chaosforschung und der Allgemeinen Systemtheorie. Alle betonen das enge Beziehungsgeflecht innerhalb lebender Systeme, das alle Phänomene als Teile eines organischen dynamischen Netzwerks sieht, in dem sich alles gegenseitig beeinflusst, voneinander abhängig ist und sich in einem Prozess kontinuierlicher Ver- änderung und Evolution befindet. Im Buch „Politik des Herzens: Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit.“, herausgegeben von Geseko von Lüpke, wird deutlich, wie sehr die hier angesprochene Veränderung des Weltbildes sich auf unsere Beziehung zur Umwelt und den Umgang mit ihr auswirkt. Gleichzeitig bestätigen alle in diesem Buch interviewten Politiker, Ökologen, Tiefenökologen (eine Philosophie, die auf den Erkenntnissen der wechselseitigen Bedingtheit beruht. Sie sieht die Erde als lebendigen Organismus, in dem alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist und in dem jedem Lebewesen sein Eigenwert zukommt), Wissenschaftler, Vordenker und Visionäre, dass es dabei um die Arbeit an der Wahrnehmung und dem Bewusstsein geht. Moderne Wissenschaftler kommen also immer mehr zum gleichen Ergebnis, wie Mystiker, wie östliche Philosophen, und wie Praktizierende von Methoden wie Taijiquan, Zen, etc. seit Jahrtausenden kommen. Für das Überleben auf unserem Planeten Erde und für unsere Weiterentwicklung wird es immer offensichtlicher, dass eine materialistische, mechanistische, Konkurrenz betonte und wachstumsorientiere Sichtweise uns nicht weiterhilft. Und wenn es beim Wissen, darum geht, uns überleben zu helfen, dann wird es Zeit, eine andere Art des Wissens zu Rate zu ziehen, nämlich eine kooperative, partnerschaftliche, ganzheitliche und transpersonale Sichtweise, zu der wir in der Taijiquan-Praxis durchaus kommen können.
Und letztendlich kommen wir zum Begriff Weisheit. Denn über das, war Wahrheit ist, streiten sich die Philosophen und selbst für die Wissenschaft geht es nur um „die Vergrößerung der Wahrheitsähnlichkeit“ (Popper), also um eine Annäherung an die Wirklichkeit. Und Karl Jaspers sagt: „Wahrheit ist, was uns verbindet. In der Kommunikation hat Wahrheit ihren Ursprung.“ Während Wahrheit noch etwas ist, womit sich die Wissenschaft beschäftigt, entzieht sich Weisheit jeglichem Messen und Beweisen. Und doch scheint es die Weisheit zu sein, die uns unserem Mensch-Sein und unserem In der Welt-Sein näher bringt. Und wieder kommen wir in einen Bereich, in dem es nicht um rationales und analytisches Denken geht. Egal, ob es im Buddhismus um Weisheit geht, oder im Daoismus: die wahre Natur des Geistes kann in der Meditation erfahren werden und aus diesem entspringt Mitgefühl und Liebe. Der ursprüngliche Zustand unserer Natur des Geistes kann mit drei Ausdrucksweisen beschrieben werden: Offenheit, Klarheit und Grenzenlosigkeit (Claude Diolosa, „Die Welt der Fünf Elemente“ herausgegeben von Franz Redl). Und da wir als Menschen in Beziehung stehen mit allem, was uns umgibt, entspringt dieser wahren Natur des Geistes auch ein Wissen über den Umgang mit allem. Weise leben nach dem Daoismus im Einklang mit den Drei Schätzen, den Jahreszeiten und den Elementen. „Die Emoti- onen werden hier noch mehr als weise Einsichten und Erkenntnisse der menschlichen Natur verstanden, wo das Wissen um die Einheit von Subjekt und Objekt stärker im Vordergrund steht und die wahre Natur des Geistes noch erlebbar ist.“ „Die Unwissenheit (das Nicht-Erfahren der einem innewohnenden Natur) ist der Ursprung jeglicher Krankheit“, sagt Claude Diolosa, ein Praktizierender der Traditionellen Chinesischen Medizin. Also fördert eine Methode wie Taijiquan die Gesundheit nicht nur durch körperliche Faktoren und einen besseren Energiefluss sondern auch durch die Erfahrbarkeit dessen, was wir sind.


5. Evolution und Weiterentwicklung

Die Evolution, als die wissenschaftliche Erfassung des Werdens, der Veränderung und des Wandels in der Natur, zeigt deutlich, wie sehr unser Sein aus Bewegung besteht. Nicht das reine Überleben steht also im Vordergrund, sondern Entwicklung. Die Bewegung der Evolution bringt keine fertigen Produkte bzw. angepasste Lebensformen hervor, sondern eine neue Bewegung: Die Evolution bringt nämlich keine Menschen hervor, sondern den Vorgang (Ontogenese), durch den Menschen entstehen können. Die Bewegung der Evolution generiert die Bewegung der Entwicklung.
Entwicklung ist eine dem Leben innewohnende Kraft. Und trotzdem haben wir die Wahl, sie anzunehmen und uns auf sie einzulassen, oder uns ihr zu verweigern. Taijiquan ist eine Methode, die ganz klare Angaben liefert, wie der Weg gegangen werden kann. Gehen muss ihn jeder selber. Und es ist beim Taijiquan wie bei der Evolution: es braucht Zeit. Alte Muster verändern sich nicht von heute auf morgen, neue müssen gefunden und ausprobiert werden. (Auch in der Biologie wird heute klar, dass durch die sich vom Menschen initiierten beschleunigten Umweltveränderungen viele Arten sich nicht schnell genug anpassen können.)
Patrick Kelly meint, es geht nicht darum, etwas zu können, es geht um das Üben an sich. Im Üben selber liegt das Potential der Weiterentwicklung. Der Körper erzeugt dabei die Energie, die für innere Entwicklungsprozesse nötig ist. Die Stärkung der Energie durch Taijiquan kann somit nicht nur die körperliche Gesundheit festigen, sondern auch die Entwicklung der Persönlichkeit und tiefere Schichten des Selbst unterstützen.
Es sind also zuerst einmal Veränderungen auf der körperlichen Ebene, dann auf der emotionalen und intellektuellen Ebene und zuletzt auf der spirituellen Ebene.
Patrick Kelly schreibt in seinem Buch Spiritual Reality: „Alle Möglichkeiten liegen in der Entwicklung der Verbindung zwischen dem Deep Mind und dem Körper…, und später zwischen dem Deep Mind und dem Spirit.“ Der Begriff Deep Mind beschreibt einen inneren und tieferen Aspekt des Geistes, der normalerweise unter der täglichen Gedankenflut verborgen bleibt. Die geistige Aktivität im Deep Mind zeichnet sich durch eine tiefe Ruhe, verfeinerte Wahrnehmung und gebündelte, zielgerichtete Intention aus. Spirit bezeichnet das höhere Selbst, dessen wichtigste Qualität die Einheit, das Einssein mit Allem ist. Durch ein Training, das Intention beinhaltet, steigern wir die Intensität der inneren Kraft. Der Geist ist dann nicht mehr passiv sondern aktiv. Auch an anderer Stelle dieses Buches, im Artikel über den Geist „Stell die Sonne ins Herz“ von Nikolaus Deistler ist Genaueres darüber nachzulesen. Letztendlich kommen wir zur Deep Mind Intelligence, dem spirituellen Aspekt der Seele. „Das Ziel jeden Trainings ist es, die drei Bewußtseinsebenen (die intellektuelle, emotionale, und die der körperlichen Bewegung) auf eine Entwicklungsebene zu bringen, wo der Kontakt zum Göttlichen deutlicher wird. Dann wird der Spirit aktiv und kann von da an die innere Entwicklung steuern.
Zusammengefasst bedeutet das in der Taijiquan-Praxis, dass wir, wenn wir als Anfänger mit Taijiquan beginnen, zuerst Genauigkeit, Entspannung, Stabilität und Aufrichtung anstreben, und dann mit dem inneren Training beginnen: das Steigen und Sinken des Körpers, verbunden mit dem Steigen und Sinken des Bewusstseins. Der nächste Schritt ist, dass wir versuchen, die Wahrnehmung auf die inneren Prozesse zu lenken: die Stellung der Gelenke zueinander, die Muskelveränderungen, Wärme und Druckveränderungen. Wir ziehen also die Aufmerksamkeit von den äußeren Sinnen ab und richten sie auf die inneren Prozesse. Auf diese Weise können wir die Verbindung zwischen Energie, Geist und Körper herstellen. Wenn wir unseren oberflächlichen Geist mit seinen Gedanken und Gefühlen beruhigen, können tiefere Schichten des Geistes zum Vorschein kommen.
Zuerst bewegen wir den Geist mit dem Körper gleichzeitig, das heißt, dass wir mit „awareness“ üben, also mit Gewahrsamkeit, und quasi beobachten, welche Prozesse im Körper ablaufen, und danach üben wir mit Intention, die von einer tieferen Schicht des Geistes kommt (also keine Intention des oberflächlichen Geis- tes ist). Wir schicken also den Geist vor, und der führt unseren Körper. Auf diese Weise verbinden wir den Körper mit dem Deep Mind.
Und so kommen wir dahin, dass wir von einer tieferen Schicht des Geistes aus reagieren können. Wir bringen die Bewegungen, die Gedanken, die Gefühle unter die Kontrolle des Energiefeldes und des Deep Minds.
Wir bleiben also nicht in der Ruhe des Geistes passiv sitzen, sondern lassen den Deep Mind wirksam werden, der nun sei- nen Einfluss auf Gedanken, Gefühle und Bewegungen geltend machen kann. Wir denken wieder, sprechen, haben Gefühle und bewegen uns. Diesmal allerdings liegt der Ursprung unserer Aktivitäten tief in uns, und ich könnte mir vorstellen, dass das damit gemeint ist, wenn es im Daoismus um das „Wu-Wei“ geht, um das Nichthandeln. „Das Dao tut nichts, und doch bleibt nichts ungetan.“, sagte Lao Zi. Und das bedeutet nicht Passivität, Trägheit oder Faulheit (Alan Watts). Es bedeutet aus seinem tiefsten Inneren zu handeln, und damit aus dem tiefsten Inneren des Universums. Es bedeutet im Fluss zu sein mit den Prinzipien des Daos, des Lebens und des Universums.
Womit wir den Kreis geschlossen haben, und die Verbindung zwischen innerem und äußerem Wissen hergestellt ist, und das Taijiquan kann beginnen in unserem alltäglichen Leben zu wirken, und das Dao, unsere innerste Natur kann zum Vorschein kommen.


6. Abschluss des Taiji

In der Form heißt die letzte Figur: „Abschluss des Taiji.“ Wir stehen wieder wie zu Beginn. Wir sind wieder zum Ursprung zurückgekehrt. Wir sind dort, wo wir immer waren und sind, in der Einheit. Und haben dazwischen all die tausend Dinge getan, erlebt, erfahren, was das Taijiquan und das Leben ausmacht, haben uns zwischen den Polaritäten bewegt, bevor wir wieder in die Stille zurückkehren, haben diese Stille auch in der Bewegung erfahren. Wir haben uns als Verbindung zwischen Himmel und Erde erlebt. Und genau das sind wir Menschen auch, wir sind die Verbindung zwischen innerem und äußerem Wissen. Wir, mit unserem Körper, der ein Teil des Körpers der Erde ist, wir mit unserem Geist, der ein Teil des Geistes des Universum ist, wir mit unserer Seele, die sowieso in der Einheit ist, und wir mit unserem Herzen, das lieben kann, und kommunizieren mit anderen Herzen, und das in der Freude lebt, und sowieso im Innersten weiß, was Sache ist, und das einfach mal herzlich lacht über all unser Streben und uns in den Arm nimmt, und froh ist, endlich diesen Artikel abschließen zu können, und nichts mehr wissen muss über das Leben und über das Wissen, und froh ist, wieder einfach nur zu leben und auf dem Weg zu sein.

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