Kannst Du bitte erklären, was die Klassischen Schriften des Taiji sind?
Die Klassischen Schriften des Taiji sind eine Ausgabe von Schriften, deren genauen Daten ich nicht nennen kann. Ich kann nicht einmal die genauen Manuskripte weitergeben, da verschieden Lehren leicht unterschiedliche Ausgaben haben. Aber es gibt ein Herzstück der Klassischen Schriften mit ca. fünf Kapiteln. Es sind dies Schriftstücke von kompetenten Taiji Lehrern der letzten 100 oder 200 Jahre, die die grundlegenden Prinzipien des Taiji beinhalten und auf die man sich normalerweise bezieht, und wenn es nicht so ist, kann man es eigentlich nicht Taiji nennen.
Du hast während Deines Lebens drei wichtige Philosophien von drei verschiedenen Lehrern studiert: Daoismus von Meister Huang, Hinduismus und Yoga von Mouniji Maharaj und Sufismus von Abdullah Dougan. Wie hast Du diese verschiedenen Herangehensweisen in Dir miteinander vereint, wenn sogar zum Beispiel zwei nur leicht von einander verschiedene Taiji Linien Verwirrung oder Probleme bescheren kann?
Ich konnte mit diesen drei Lehren, die Hinduistische Yoga Lehre, die Daoistische Lehre und die Sufi Lehre genauso zurechtkommen, wie mein Lehrer mit dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und dem Daoismus. Im Besonderen suchte ich nach dem Gemeinsamen dieser drei Lehren, und ich erkannte, dass das Gemeinsame auch das war, was wichtig war. Und umgekehrt, das was spezifisch nur auf eine dieser Traditionen zutraf, war eine Schicht, die ihren Ursprung in der Gesellschaft hatte, in der diese Tradition entstanden war.
Diese drei sehr erfahrenen Lehrer (die selber von verschiedenen erfahrenen Lehrern gelernt hatten) halfen mir zu unterscheiden, was die wirklich wichtigen Hauptelemente ihrer Traditionen waren und was nur eine Schichte darstellte, die durch Geschichte und Gesellschaft an die Spitze gestellt wurde.
Also hinter das kulturelle Erscheinungsbild dieser Dinge schauen?
Ja, das war der Weg. Ich schaute hinter das kulturelle Erscheinungsbild, weil alles mit der Zeit durch Kulturelles überdeckt wird.
Hast Du auch nach etwas gesucht, das für Dich persönlich relevant war?
Nicht wirklich, ich habe nichts gesucht, das für mich persönlich wichtig war. Ich versuchte vielmehr die wahre Essenz der Lehren zu entdecken. Für jeden dieser Lehrer, von denen ich gelernt hatte, war es so, dass es tief in ihnen überhaupt keinen Unterschied gab. Sie hatten genau das gleiche Verständnis. Jeder von ihnen hat bis zum Zeitpunkt seines Todes nur mehr sehr wenig von den kulturellen Aspekten in seinen Lehren gehabt. Natürlich gab es früher in ihrem Leben wesentlich mehr Bezug zu ihrer jeweiligen Kultur. Als ich zum Beispiel Meister Huang kennenlernte, war er sehr von der chinesischen Kultur beeinflusst. 20 Jahre später hat sein Unterricht viel davon verloren. Und bei den anderen Lehrern war es das gleiche. Abgesehen von diesen Veränderungen war ihre Lehre tief im Inneren die gleiche.
Wurden sie deshalb innerhalb ihrer Kultur als eher unorthodox betrachtet?
Jeder von ihnen wurde, als sie sich schrittweise weiterentwickelten, als eher unorthodox angesehen.
Welches spirituelle Ziel ist Deiner Meinung nach im Zusammenhang mit Taiji erreichbar?
Im Buddhismus sprechen sie von Erleuchtung, im Daoismus von Unsterblichkeit, im Sufismus von Auflösung. In der hinduistischen Yoga Tradition sprechen sie von Verwirklichung. Das Selbst verwirklichen, das nicht reale Selbst des Sufismus zerstören, in der daoistischen Tradition Unsterblichkeit erlangen, in der Buddhistischen Tradition erleuchtet zu werden – das sind alles nur Wege, von außen auf das gleiche zu schauen, das im Inneren als Ergebnis von echtem Training stattfinden kann.
Wenn diese Transformation stattfindet (ob man es so sieht, dass ein Mensch mit Licht erfüllt wird, oder die unsterbliche Leere entsteht, oder das Ego zerstört wird, damit das Selbst verwirklicht wird), dann kann der Mensch innerhalb dieses sehr tiefen echten Teil von sich selber leben – und er ist nicht länger abhängig vom Körper, und eine Art Unsterblichkeit wird erreicht.
Es sollte deutlich gemacht werden, dass dieser Prozess eine unaufhörliche Reise ohne vorhersehbares Ende ist, aber es gibt Etappen auf dieser Reise, und eine davon kann angemessenerweise mit dem modernen Begriff „Erleuchtung“ bezeichnet werden, was einer Art Unsterblichkeit entsprechen kann oder auch Selbst-Verwirklichung genannt wird. Diese Phase ist die Stabilisierung des klaren Kontakts mit dem wahren Teil eines Menschen, dem Wahren Selbst.
Entwickelte Lehrer betrachten diese Phase als bedeutende Etappe der Reise.
Es scheint heutzutage die Gefahr zu bestehen, dass verschiedene spirituelle Traditionen als Gebrauchsartikel angeboten werden, und es gibt eine New Age Industrie, eine spirituelle Industrie, die es schwer macht, zu erkennen, was wirklich hilfreich ist und was nur oberflächlicher Unterricht ist. Kannst Du bitte einen Rat geben, wie Menschen diesbezüglich klar zwischen dem falschen und dem echten unterscheiden können?
Das Problem entsteht unausweichlich für jeden, da man von einem relativ oberflächlichen Platz aus anfängt. Der oberflächliche Teil, das Denken des Gehirns, liest, hört oder sieht ein wenig tiefergehenderen Unterricht und das Wissen des Bewusstseins des Gehirns (das nur durch die äußeren Sinne aufnehmen kann) wird durch den oberflächlichen Teil des Menschen in mentale Konzepte übersetzt, und er glaubt, dass er diese tiefgehenden Lehren verstanden hat, und beginnt sie dann vielleicht zu unterrichten, verkauft sie an andere weiter und so fanden unausweichlich in jeder Generation Rückschritte statt.
Mir wurde im Zusammenhang mit meinem Unterricht von einem buddhistischen Lehrer eine Geschichte erzählt, dass einer von Buddhas Schülern nach 20 Jahren Unterricht zu Buddha kam und zu ihm sagte: „ich mache deine Meditationen, deine religiösen Praktiken, deine körperlichen Übungen nun seit 20 Jahren und ich scheine keine Fortschritte zu machen“. Der Buddha antwortete: „obwohl du äußerlich alles genauso gemacht hast, wie ich es dir gesagt habe, hast du alles mit deinem Alltags–Geist gemacht. Du hast alles, was ich gesagt habe, in deine Konzepte des Alltags übersetzt. Du hast die Mantren mit deinem Alltags-Geist wiederholt, du hast die Meditation mit deinem Alltags-Geist gemacht, aber der Alltags-Geist kann nicht zum Buddha-Geist führen.“
Genau das gleiche Problem, das es schon vor zweieinhalb tausend Jahren gab, besteht nach wie vor. Menschen lesen, hören und sehen grundlegende subtile Lehren und bilden sich sofort ein, dass sie sie verstehen. Der einzige Weg diese falsche Fährte zu verhindern, ist jemanden zu finden, der etwas Wirkliches aus der Praxis gemacht hat und der in dessen Tiefe führen kann.
Wie kann nun diese offensichtlich sanfte Taiji Kunst als effektive Kampfkunst benützt werden?
Es heißt, dass beim Taiji das Schwache das Starke besiegt und das Langsame das Schnelle. Die Art auf die man Taiji benützen kann, um das Schnelle und Starke zu bezwingen, ist nicht indem man sich dem Schnellen und Starken entgegensetzt. Man darf der Stärke keinen Widerstand leisten, sondern muss mit der Stärke einer Person verschmelzen und ein Teil von ihr werden. Man muss sich mit ihr bewegen und kann dann einen Einfluss auf sie haben. In dem Moment, in dem man sie zu blockieren versucht oder sie in eine andere Richtung zwingen möchte, wird man mit dieser Kraft zusammenstoßen.
Besonders dann, wenn eine Kraft auf einen zukommt, muss man sich in die gleiche Richtung wie die Kraft bewegen, und dann kann man sanft einen Einfluss auf sie ausüben. Genauso als würde man einen Ochsen an der Nase führen, und nicht indem man der Kraft des Ochsen Widerstand leistet oder ihn versucht zur Seite zu drängen. Untrainierte Leute begegnen einer Kraft üblicherweise frontal, während Leute, die in den härteren Kampfkünsten trainiert sind, üben, die Kraft um 90 Grad abzuwehren, aber beide sind auf ihre Stärke als Verteidiger angewiesen. Wie auch immer, auch die kleinste Person kann den Ochsen an der Nase führen, wenn er sich erst einmal in Bewegung gesetzt hat. Das also bedeutet die Redensart, die beim Taiji so geläufig ist, „den Ochsen an der Nase führen“, und das ist der Schlüssel mit der Kraft des Gegners umzugehen. Indem man sich mit der Bewegung des Partners verbindet, kann ein intelligenter Einfluss auf seine Kraft entstehen.
Das was im Satz „der Langsame besiegt den Schnellen“ ausgedrückt wird, wird durch das richtige Timing angewendet. Es wird nicht einfach dadurch erreicht, indem man durch eine langsame Bewegung jemanden besiegt, der sich schnell bewegt, sondern indem man bewusst auf einem viel tieferen Level agiert. Diese Tiefe erlaubt einem den Prozess in seinen frühen Phasen wahrzunehmen und zu verstehen. Noch bevor sich der Vorgang voll entwickelt hat, kann man die ersten Anzeichen erkennen. Das bringt einen zeitlichen Vorsprung gegenüber dem Gegner mit sich, denn ohne große Geschwindigkeit ist man auf ein Ereignis vorbereitet, bevor es seine größte Stärke erreicht. Also ist es in Wirklichkeit das Timing, das Geschwindigkeit besiegt, und Sensitivität oder die Verbindung zum Partner, die dessen Kraft überwinden kann. Indem eine kleinere schwächere Person sensitive Intelligenz benützt, die durch wahres Taiji entwickelt wird, wird es für sie möglich mit der Kraft einer größeren, stärkeren und schnelleren Person umzugehen.
Auch wenn man dieses Prinzip theoretisch versteht, wie lange braucht es ungefähr dies in die Praxis umzusetzen?
Es braucht Zeit schrittweise die Fähigkeit zu erlernen mit Stärke und Schnelligkeit des Partners umzugehen. Zuerst gelingt das nur sehr eingeschränkt, und schrittweise entwickelt sich dieses Können über Jahrzehnte. Aber auch nach einem, zwei oder drei Jahren kann die Person schon ein wenig mit harter Stärke umgehen, indem sie sich damit verbindet und mit ihr bewegt, anstatt dagegen anzugehen oder sie in eine andere Richtung zwingen zu wollen. Natürlich sollte sich das Können nach Jahrzehnten in Richtung Perfektion verändern.
Welchen Rat kannst Du jemanden geben, der mit Taiji anfangen möchte?
Wenn man mit Taiji anfangen möchte, gibt es zwei wichtige Dinge, die zu tun sind. Das eine ist das Lernen, das andere einen guten Lehrer und einen guten Unterricht zu finden.
Beim Lernprozess gilt es beim äußeren Training anzufangen und sich langsam nach innen vorzuarbeiten. Man beginnt mit dem was man hat. Man hat die Bewegungen des eigenen Körpers, die eigenen Gedanken und die eigenen Gefühle. Man muss mit der Verfeinerung dieser drei Aspekte beginnen. Üblicherweise beginnt man mit der Beseitigung der Spannungen im Körper also mit der Entspannung. Normalerweise ist also der erste Schritt beim Taiji Training den Körper entspannen zu lernen. Das Entfernen übermäßiger Spannung des Körpers kann bei ausreichendem Üben ein, zwei oder drei Jahre dauern. Durch diesen Prozess wird auch die damit verbundene emotionale Spannung und Überaktivität des Gehirns beeinflusst und verringert werden. Das ist es was Anfänger am Beginn versuchen sollten.
Um jemanden zu finden, der das unterrichten kann, braucht es für diese Suche die eigene Intelligenz, die eigene Lebenserfahrung. Manche Lehrer wissen mehr, manche weniger, manche passen besser für einen bestimmten Schüler, manche weniger. Idealerweise sucht man sich jemanden aus, der für einen längeren Zeitraum bei seinem Lehrer trainiert hat, und der wiederum selber eine beträchtliche Zeit bei seinem Lehrer gelernt hat, etc. So dass auf diese Weise die sehr subtilen Elemente der Lehre von Generation zu Generation weitergegeben wurden und nun für Dich verfügbar sind, wenn Du sie lernst.
Nachtrag
Ich würde gern mehr über die Geschichte des Taiji fragen. Je mehr ich über die Mitte des 19. Jahrhunderts herauszufinden versuche, umso weniger Sicherheit scheint es darüber zu geben. Nach der mündlichen Überlieferung, die Du über die Geschichte des Taiji erhalten hast, ist es wahr, dass Zheng Manqian Unterricht von Yang Chengfu bekommen hat, oder lernte er von einem seiner Schüler?
Zheng Manqian lernte direkt von Yang Chengfu, aber natürlich auch von seinen älteren Schülern. Das ist in allen Schulen so. Er lernte vor allem die Meditation von Zhang Qinlin, einen der ältesten Schüler von Yang Chengfu (der ein echter Schüler seines Vaters Yang Jianhou war).
Was ist über Yang Luchan bekannt und was lernte er von Chen Changxing? Hatte er andere Lehrer?
Ich habe keine guten Informationen über Yang Luchan und seine Lehrer.
Woher hatte die Chen Familie ihre Kunst?
Die meisten alten Lehrer sagen, dass der moderne Chen Stil hauptsächlich Shaolin Chen Stil (engl.:„ Chen village Shaolin“) ist und kaum mehr in Verbindung mit dem Taiji des Chen Stil der Vergangenheit ist, der innerhalb des Dorfes, in dem die Familie Chen ansässig war, gepflegt wurde.
Was war die Bedeutung von Wang Tsung Yueh?
Es gibt nur Spekulationen darüber, wer er war.
Meister Huang wurde von einem daoistischen Weisen unterrichtet. Bekam er seine Informationen hauptsächlich von ihm?
Ja, Meister Huangs White Crane Lehrer war ein daoistischer Mönch. Er lehrte ihn White Crane, Chinesische Medizin und Meditation.
Kannst Du bitte mehr über die spirituellen Anliegen einiger dieser Lehrer erzählen?
Zheng Manqian war in einer daoistischen „heiligen Gemeinschaft“, so wie vermutlich auch Yang Chengfu. Meister Huang war ebenfalls ein Mitglied. Meister Ma Yueh-Liang war, glaube ich, in der gleichen (er sprach mit mir darüber). Sie existiert immer noch in Taiwan und Singapur. Sie unterrichten die inneren Energie-Übungen des Daoismus, die mentalen Einstellungen des Buddhismus und die sozialen Regeln des Konfuzianismus. Ich besuchte die Organisation in Singapur vor ein oder zwei Jahren. Sie haben drei Tempel: einer ist dem Daoismus geweiht, einer dem Buddhismus, einer dem Konfuzianismus. Üblicherweise wurde diese Information sehr geheim gehalten. Den meisten Schülern (von Yang, Cheng, Ma oder Huang) wurde nichts darüber erzählt. Es ist eine Information nur für „Schüler des inneren Kreises“ („inside the door students“).
Erzählte einer von diesen Lehrern etwas über Chan San-Feng?
Beide, Meister Ma und Meister Huang betonten, dass Taiji auf Chan San-Feng zurückgeht. Aber wer Teil der Kette der Weitergabe seit jener Zeit bis heute war, ist verloren gegangen.